von SANDRO MEZZADRA (Operazione Mediterranea – Operation Mittelmeer). [altre lingue: ⇒ italiano, ⇒ english, ⇒  français, ⇒ español, ⇒ български (bulgaro)]

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Einer nach dem anderen klingen die Namen der Opfer nach, Namen ohne Körper, die von einer Vielzahl von Leben und Geschichten erzählen, zunichte gemacht an den Grenzen Europas: Asmat – Namen, betitelt Dagmawi Yimer seinen Kurzfilm, eines der kraftvollsten und bewegendsten Werke über die Schiffskatastrophe vom 3. Oktober 2013. Denn eines der bestimmenden Merkmale der Frauen, Männer und Kinder unterwegs über das Mittelmeer – wie auch auf dem Weg durch viele andere Grenzräume – ist es, ohne Namen, anonym zu sein. Die irreduzible Singularität einer jeden Existenz wiederherzustellen ist die bedingungslose Geste des Widerstands, zu der Asmat – Namen uns auffordert.

Am fünften Jahrestag der Schiffskatastrophe von 2013, während das Sterben im Mittelmeer weitergeht, haben wir ein Schiff zum Einsatz gebracht, die Mare Jonio. Wir tun dies nach einem Sommer, in dem die italienische Regierung einen erbarmungslosen Krieg gegen die Migration und gegen Nichtregierungsorganisationen geführt, Häfen geschlossen und auf einem Küstenwachschiff Dutzende von Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten festgehalten hat. Die Kriminalisierung «humanitärer» Operationen hat dazu beigetragen, unbequeme Beobachter aus dem Mittelmeer zu vertreiben und Zeuginnen fernzuhalten sowie die Namenlosigkeit der Frauen und Männer, die unterwegs sind, zu unterstreichen: Vor neugierigen Blicken geschützt, war die libysche Küstenwache imstande, Hunderte zurück in die Internierungslager zu schicken – in Folter, Gewalt, Sklaverei –, während viele hundert andere zu Schiffbrüchigen wurden. Und es gibt Leute, die das begrüßen und es als Erfolg feiern.

Das Projekt zu realisieren, war nicht einfach. Die Plattform, die einfach «Operation Mittelmeer» heißt, ist keine NGO: Wer in den vergangenen Wochen daran beteiligt war, ein Boot zu suchen und den Einsatz vorzubereiten, verfügte über keine Erfahrung in der Welt, in der man sich da bewegte. Doch in vielen Häfen trafen wir Menschen, die uns nicht nur aus einer professionellen Haltung heraus unterstützten, sondern auch aus empfundener Solidarität, aus der Weigerung, die Missachtung des Lebens und des internationalen Rechts zu billigen, also aus Haltungen heraus, wie sie – insbesondere nach den Ereignissen um das Seenotrettungsschiff Diciotti –unter Seeleuten immer häufiger anzutreffen sind.

Entscheidend für uns waren die Erfahrungen und die Zusammenarbeit verschiedener NGOs, die in den letzten Jahren im Mittelmeerraum aktiv waren – eine von ihnen, Sea-Watch, ist Teil der Plattform, während etwa Open Arms sich auf See mit uns abstimmt. Die Operation, die wir heute beginnen, stellt sich jedoch in erster Linie der Kriminalisierung «humanitärer» Interventionen entgegen, mit der wir aktuell konfrontiert sind. Weit zurück scheinen die Zeiten zu liegen, da «humanitäre Vernunft» als Teil eines umfassenderen Systems der Regierung (insbesondere der Migration) analysiert werden konnte. Es handelt sich entsprechend um eine zutiefst politische Herausforderung. Insbesondere geht es zunächst um einen Punkt: um die praktische Behauptung des Rechts einer Reihe nichtstaatlicher Akteure, politisch in einem Bereich zu intervenieren, in dem die «zuständigen Behörden» in eklatanter Weise ihre Verpflichtung verletzen, das Leben der Menschen unterwegs zu schützen.

Dies war der Ansatzpunkt für die Gründung der Plattform Operation Mittelmeer: eine offene Plattform für das Engagement und die Beteiligung all jener, die uns in den kommenden Wochen unterstützen wollen (etwa durch Crowdfunding, was absolut notwendig ist, um die Nachhaltigkeit eines ebenso ambitionierten wie arbeitsintensiven Projekts in finanzieller Hinsicht sicherzustellen). Ganz offensichtlich ist dieser Punkt von grundlegender Bedeutung. Allgemeiner jedoch geht es darum, in Italien und in Europa der Debatten, dem Handeln und der Auseinandersetzung um das Thema Migration einen Raum zu öffnen – und zwar durch eine praktische Intervention.

Wir möchten, dass sich auf unserem Schiff, zur See und an Land, die Mobilisierungen kreuzen, die sich – zwischen Ventimiglia und Apulien, zwischen Catania und Mailand, um nur ein paar Beispiele zu nennen – in den vergangenen Monaten rund um die Migration entwickelt haben; wir möchten, dass die Mare Jonio zu einer Art Forum wird, das sich Tausende von Frauen und Männern zu eigen machen, um auf den Plätzen und Straßen Erzählungen der Migration zu verbreiten, Erzählungen, die sich radikal von dem Knurren und den Dekreten eines Salvini unterscheidet: Wir möchten, dass das Schiff ein Instrument wird, um auf andere Art und Weise über Italien und Europa zu sprechen, ausgehend zunächst von den Städten.

Wir unterschätzen keineswegs die Schwierigkeiten der momentanen Lage. Wir wissen, dass wir aus einer Minderheitsposition heraus handeln und, was Fragen der Migration anbelangt, einer feindseligen Hegemonie entgegentreten müssen; wir wissen, dass in den vergangenen Monaten die Gleichsetzung von «Zuwanderer» und «Feind» sich radikalisiert hat (wozu in den vergangenen Jahren auch politische Kräfte, die sich nicht auf der Rechten verorten, einen wesentlichen Beitrag leisteten), was die Ausbreitung eines allgegenwärtigen, jeden Tag aggressiver auftretenden Rassismus im Land ermöglichte und förderte. Wir wissen aber auch, dass diese Hegemonie umgekehrt werden kann und muss – und wir die notwendigen Risiken und Gefahren auf uns nehmen müssen. Die Operation, die heute beginnt, aufgeladen mit symbolischer Bedeutung, ist ein Beitrag in diesem Sinne.

Ein Schiff, hebt C.L.R. James in seinem großen Buch über Melville hervor (geschrieben 1952 in einer Zelle auf Ellis Island, in der er auf seine Abschiebung aus den USA wegen «unamerikanischer Umtriebe» wartet), ist im Grunde genommen nichts anderes als die vielfältige Menge der Arbeiten und Handlungen, die sich an Bord ereignen, also das, was es buchstäblich schafft. Nun, unser Schiff wäre nichts ohne die Leidenschaft und das Engagement der Hunderte Frauen und Männer, die nicht nur dafür arbeiteten und weiterhin arbeiten, die Mare Jonio zum Einsatz zu bringen, sondern auch dafür, neue und vielfältige Brücken zwischen Meer und Land zu bauen. Ein Schiff, fügt James hinzu, «ist eine Miniatur der Welt, in der wir leben». In unserem Fall handelt es sich um eine Miniatur der Welt, die zu schaffen wir uns gemeinsam bemühen. Und wir sind sicher, dass wir bald Tausende sein werden, die dieses Bemühen teilen.

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