Antonio Negri und Raúl Sánchez Cedillo.*

 

 

Das konstitutionelle demokratische System Nachkriegseuropas war in allen Ländern nach einem Modell des wiederkehrenden Regierungswechsels zwischen „rechts“ und „links“ organisiert, im Rahmen einer kapitalistischen Ordnung, die sich entwickelte und Reformen unterworfen war, aber zugleich grundsätzlich außer Streit stand. Es waren die Bedingungen von Jalta. Dieses Modell ist in der Krise. In vielen europäischen Ländern stehen tatsächlich bereits dritte Kräfte zur Wahl, die dieses duale Schema erschüttern. In dieser Hinsicht sollten wir uns fragen, ob der Aufbau einer neuen konstitutionellen Struktur der Europäischen Union nicht genau von der Prognose der Krise des Nachkriegsverfassungsmodells her begonnen hat, jedenfalls aber ausgehend von der Wahrnehmung einer sich offenbarenden Zügellosigkeit  des klassisch demokratischen Modells. Diese Struktur erschien als Garantie für die Aufrechterhaltung eines kapitalistischen Entwicklungsmodells angesichts des Niedergangs seiner nationalstaatlichen Formen. Andererseits waren „links“ und „rechts“ schon in die „Mitte“ gerutscht, indem sie künstliche Repräsentations- und Regierungsweisen auf ein Gleichgewicht ausrichteten, das die künftige Stabilität sicherstellen sollte, und indem sie jede Dialektik von Reform oder Transformation eliminierten.
Das war der Stand – doch die Situation ändert sich schnell. Die griechische Krise beginnt zu zeigen, dass diese Homogenität der (aus „rechts“ und „links“ zusammengesetzten) Befehlsgewalt eine Funktion in einem konservativen und nicht selten offensichtlich reaktionären Sinn darstellt. Auf der einen Seite verstehen die Rechten Europa als ihre Beute. Die Art, wie sie bis jetzt als Mehrheit in Europa handeln, zeigt, dass sie ein Europa wollen, das ihr exklusives Produkt ist – eine wahrliche Verdinglichung. Wenn wir auf der anderen Seite die sozialdemokratischen Regierungen in den Blick nehmen, die in einem zentristischen Block gefangen sind, der ihnen erlaubt, ihre Partikularinteressen zu vertreten, sehen wir, dass sie jede Hoffnung auf Erneuerung aufgegeben haben. Das schmerzhafte Harakiri von Zapatero im Mai 2010 oder die Selbstzerstörung der griechischen PASOK geben Zeugnis davon.

In ihrer historischen Ausgestaltung und heutigen Erscheinungsform wird die Europäische Union unter der Regierung einer politischen „Mitte“, die zu extremistischen und verheerenden Aktionen zur Verteidigung des kapitalistischen Gleichgewichts fähig ist, einer Erpressung unterworfen, vielleicht ist ihre Bestimmung sogar ihre Zertrümmerung. Je mehr die europäischen Multituden verstehen, dass in einer globalisierten Welt nur eine kontinentale Organisation die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerungen ermöglicht, desto weniger zeigen die europäischen politischen Klassen Bereitschaft zu einer politischen Union, wenn diese nicht unmittelbar und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse konstruiert ist.

Wir müssen diesen Niedergang umkehren und im Aufbau des europäischen Projekts die Demokratie wieder ins Spiel bringen. Dies ist für Griechenland notwendig, um zu überleben, für die spanischen demokratischen Kräfte, um sich zu behaupten und zu gewinnen, für alle EuropäerInnen, um sich zu Europa zu bekennen und aus der Krise und der Sparpolitik auszubrechen, die heute nicht nur das Überleben schwierig machen, sondern auch jede Freiheit verhindern. Dieses Bedürfnis muss sich in eine politische Entscheidung verwandeln, weil, sobald das Begehren nach Europa bei den Multituden mehrheitlich wird, die KapitalistInnen und ihre Regierungen alles tun werden, um Europa zu zerstören. Sie können auf beiden Spielfeldern agieren, jenem des bestehenden Europas und jenem der alten aggressiven Nationalismen. Wir aber nicht.

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Es ist besonders schmerzhaft, dass zugunsten Europas zu sprechen, an der Gründung  einer konstitutierenden Macht zu arbeiten, die ihm einen sozialen Charakter und eine demokratische Eignung in einer föderalistischen Senza-titoloPerspektive gibt, heute bedeutet, gegen einen Großteil der Linken in Europa zu polemisieren. Es ist klar, dass sie ihr Erstgeburtsrecht verkauft haben. Bereits bei der Abstimmung über die Europäische Verfassung im Jahr 2005 wurde die Blindheit der europäischen Linken deutlich. Tatsächlich sehen die europäischen Sozialdemokratien keine Möglichkeit, außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens Politik zu machen und Macht auszuüben. Diese sektiererisch nationalistische Blindheit wurde (nach einem langen Verfall) wiederbelebt und ist seit der europäischen Krise in Europa wieder so richtig angesagt. Statt sich mit den Bewegungen des Kampfes um die Transformation der Realität der Europäischen Union zu verbünden, haben die europäischen Linken sich nicht nur häufig für die Sparpolitik ausgesprochen, sondern auch gegen Europa (wie zum Beispiel gerade in Frankreich) – getrieben von einem unternehmerischen Egoismus, der dem Wort „links“ auch noch den letzten Lichtschein genommen hat. Es ist so weit gekommen, dass dieser Egoismus leicht mit dem Hass der faschistischen Kräfte gegen die EU verschwimmt. Die AmtsträgerInnen der Linken sagen, dass Europa nicht funktionieren kann, weil man es von Anfang an vorgezogen hat, sich im Entstehungsprozess nicht einer politischen Regierung anzuvertrauen, sondern juridischen Bürokratien: und es ist wahr. Sie sagen auch, dass in einer zweiten Phase versucht wurde, Ökonomien im Gleichschritt marschieren zu lassen, die ein unterschiedliches und manchmal widersprüchliches Tempo hatten, ohne dabei zu dieser Zeit wirksame Anstöße für eine programmatische Einheit auf steuerlicher und kultureller Ebene ins Spiel zu bringen: und es ist wahr. Schließlich konnte im Brand der Krise kein Kompensationsmechanismus gefunden werden, und das hat die Union und den Euro gerade in Ermangelung jeder politischen Stütze an den Rand der Auflösung geführt, was zu Lasten der großen Mehrheit der Bevölkerungen von Südeuropa ging: und auch das ist wahr.
Aber warum wollen uns die linken Parteien heute Lehren erteilen, wenn es genau ihre ausschließlich staatliche Vision gewesen ist, der Korporatismus der Gewerkschaften und der Verrat an jeder internationalistischen Hoffnung, die uns in diese Situation geführt haben? Es ist mehr als offensichtlich, dass die politische Einheit Europas das Grundelement seines wirtschaftlichen und zivilen Erfolgs im globalen Kontext ist. Diese Politik müsste die Linke befördern, während sie sich tatsächlich im Bündnis mit der Rechten verloren und korrumpiert hat, nicht nur auf dem Gebiet der nationalen, sondern vor allem der europäischen Regierungen.

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Jetzt gilt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Die Integration fortzusetzen bedeutet heute, eine konstituierende Kampagne zu lancieren, es bedeutet, jenen passiven Konsens auszuschließen, der bisher erlaubt hat, die derzeitigen europäischen Strukturen zu bestärken und die politische Katastrophe zu vertiefen, die durch deren Politik verursacht wurde. Es bedeutet, eine öffentliche Meinung zu entwickeln, die eine neue konstitutionelle Perspektive vorzuschlagen beginnt. Nach dem Sieg von SYRIZA, der auch die Hoffnung auf jenen nächsten Sieg von Podemos nährt, nachdem in vielen Teilen Europas euroradikale politische Kräfte entstehen, bedeutet Europa zu konstituieren unschwer, die konservativen Parameter loszuwerden, die bislang die Strukturen und Politiken bestimmt haben. Es ist seltsam, dass das jetzt erst klar wird, aber tatsächlich haben seit dem Sieg von SYRIZA die interne und die externe Dimension der Union begonnen, sich zu überschneiden und Hand in Hand zu gehen, als Anreiz für ein Regime von mehr Gleichheit und Freiheit, als Versuch, aus dem „Gemeinsamen“ jenseits der falschen Dichotomie des Privaten und des Öffentlichen einen anerkannten Wert in jedem einzelnen der Länder Europas zu machen, und zugleich als Druck, der alle europäischen Länder durchzieht, in Richtung einer demokratisch sanktionierten, föderalen Integration. Es handelt sich um einen Prozess, der in den Kinderschuhen steckt, der zugleich aber dazu neigt, mehrheitlich zu werden. Auf jeden Fall muss man einräumen, dass ein neuer konstituierender Geist in der Luft liegt. Ist es nicht gerade die Kenntnisnahme dieses Geistes, die als Gegenrede so viel Hysterie und Vulgarität in den Medien der Bosse, den Erklärungen der Parteien und der europäischen Bürokratien hervorruft? Es gibt eine neue Erkenntnis, dass die Dimension der Befreiung in den einzelnen Ländern mit dem Vermögen der Föderation auf der Ebene von ganz Europa einhergeht – ist es nicht das, was den  engstirnigen und dummen nationalen Oligarchien Angst macht?

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Le-Serment-du-Jeu-de-paumeIn einem schönen Artikel, der vor kurzem in der italienischen Zeitung Il Manifesto erschienen ist, wurde an den Ballhausschwur erinnert, den die Revolutionäre des Dritten Standes im Juni 1789 leisteten, als offensichtlich wurde, dass die anderen Stände des Ancien Regime nicht eine Verfassungsreform unterzeichnen würden, die auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität gründete. Heute brauchen die demokratischen Kräfte in Europa einen ähnlichen Übergang, einen konstituierenden Eid, der es erlaubt, neue Formen der föderalen Union und neue Strukturen der ökonomischen Einheit auf europäischer Ebene auszumachen, die als ihre Basis die neue demokratische Radikalität versammeln, die seit 2011 zum Ausdruck gekommen ist.
Es sind die rechtlichen und ökonomischen Bedingungen der Außenpolitik, die dieser konstituierenden Notwendigkeit zugrunde liegen, der eine politische Entscheidungskraft, die sich in den Bewegungen verkörpert, entsprechen muss. Die Elemente der Außenpolitik ergeben sich aus einer sorgfältigen Reflexion über die Situierung Europas auf globaler Ebene. Heute ist Europa Teil eines Blocks von Kräften, die in der NATO zusammengefasst sind, die, ohne dafür zu haften, die Außenpolitik der Mitgliedstaaten der Union lenkt. Die Interessen der europäischen Bevölkerung sind vollständig der atlantischen Macht untergeordnet. In diesem Bereich erleben wir jeden Tag nicht gerechtfertigte Paradoxien und nicht zu rechtfertigende Verstrickungen, einschließlich der europäischen Finanzierung des ukrainischen Kriegs und der aktuellen Verhinderung der Refinanzierung der griechischen Schulden. Aber das Durcheinander der Passivität der Bevölkerungen und der Opazität der Entscheidungen, der Kompromisse und der Feigheit in der Außenpolitik der einzelnen Länder und der Union ist unbeschreiblich: Genug davon! Die Verantwortungslosigkeit dieses strategischen und militärischen Verhältnisses ist in dieser Zeit der globalen Instabilität eine äußerst gefährliche Bedingung, der jede konstituierende Initiative an erster Stelle Rechnung tragen muss. (Und hier geht es auch um die Beendigung der Gewalt gegen Personen an den Außengrenzen der Europäischen Union).
Ein Europa, das sich vom atlantischen Einfluss befreit, muss sich in der Lage sehen, autonome Politiken zu entwickeln, die den Austausch fördern und der Welt die kollektive und kooperative Intelligenz zur Verfügung stellen, den General Intellect, von dem Marx sprach, in dem Ausmaß, wie er bisher entwickelt ist; Politiken, welche die unterdrückten Bevölkerungen unterstützen und nachhaltigen Frieden und Entwicklung aufbauen. Denn vergessen wir nicht, dass der Frieden heute auf dem Spiel steht.
Was die rechtlichen Bedingungen angeht, stellt klarerweise die Dynamik in Richtung einer föderalen Struktur der Regierung der Multituden in Europa das Hauptziel in dieser konstituierenden Phase dar. Wir sind für eine konstituierende Macht, die eine Föderation in Europa aufbaut. Wir sind dafür, perspektivisch eine föderale Ordnung zu gründen, die die zivilen, ökonomischen und moralischen Interessen der BürgerInnen aller Staaten sammelt, mobilisiert und stärkt, in einer Gemeinschaft der EuropäerInnen, die auch die Unionsbürgerschaft jener BürgerInnen zweiter und dritter Kategorie anerkennt, jene der MigrantInnen aus EU- und Nicht-EU-Staaten. Wir wissen, dass das „Sich-Verbünden“, die Föderation schwierig ist, weil sie in der gegenwärtigen Phase die Zerstörung der Oligarchien der europäischen Regierung und damit jene der Oligarchien der Parteien in den einzelnen Ländern der Union erfordert. Aber die Föderation kann trotz dieser Hindernisse errichtet werden, wenn man sie nicht nur als eine Einheit von Staaten, von verschiedenen ökonomisch-politischen Konfigurationen versteht, sondern als Prozess, in dem sich (jenseits der Kriege der Vergangenheit) eine neue Geschichte Europas und die Kräfte, deren es heute fähig ist, offenbaren (eine reiche Fülle an kognitiver und Sorge-Arbeitskraft, die ökonomische und zivile Innovation produziert).
Vor allem aber insistieren wir auf die Tatsache, dass ausgehend vom aktuellen Grad der politischen und sozialen Kämpfe, der neuen Klassenkämpfe, der sozialen Organisation der Arbeit und der kapitalistischen Extraktion des Reichtums, die europäische Einheit und der Föderalismus nicht eine rechtlich unantastbare Maschine begründen können, welche die gegenwärtigen Klassenunterschiede reproduziert. Es kann nicht das Spiel sein, in dem sich alles ändert, weil nichts sich ändert, wie im Übergang vom europäischen Faschismus zur Demokratie der Nachkriegszeit und in den 1980er Jahren in der spanischen Transition. Wir wollen eine Verfassung, die von oben eine Governance der Freiheiten fordert, von unten, von den Multituden, eine Ausübung der egalitären Verwaltung in der Produktion und in der Umverteilung des Reichtums. In den letzten Jahren haben wir in Lateinamerika die Entstehung von neuen demokratischen Verfassungen erlebt, die den Pluralismus der Subjekte mit sehr effektiven Dispositiven ökonomischer Reform verbunden und im Licht eines überwältigenden Sinns für Gleichheit neue soziale Solidaritäten erschaffen haben. Es geht nicht darum, diese Erfahrungen nachzuahmen oder sich mit ihrem Erfolg zu vergleichen. Es geht um die Förderung und Unterstützung einer demokratischen Dynamik, die in der Lage ist, auf dem Terrain einer föderalen Verfassung des Gemeinsamen zu gewinnen. Es geht darum ein Vermögen des Aufbaus von politischen Unternehmen der Gesellschaft zu verbreiten und umzusetzen, die Freiheit und Reichtum verbinden. Es geht darum, jedes Identitätsgefühl auszuschließen, das ständig nichts anderes als Nationalismen und selbstmörderische Demokratien in ihrer Reproduktion der oligarchischen Art produziert. Es geht um den Aufbau eines gerechten und vereinten Europas. Leider gibt es keine Alternative. Die demokratischen Ausbrüche der Multituden in Griechenland, in Spanien, und dann der Erfolg von SYRIZA und die Hoffnung auf Podemos sind aus dieser Perspektive nichts als ein Anfang, eine Gelegenheit, die mit Mut und Intelligenz genutzt werden muss.

 

 

* Aus dem Italienischen von Gerald Raunig

 

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